Begrüßungsrede, gehalten von Burghard Gieseler
aus Anlass der feierlichen Verleihung der Stipendien der Studienstiftung des deutschen Volkes
an die Sieger des Rerum Antiquarum Certamen
am 5. Juli 2014
in der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel
Liebe Landessieger, wer von Ihnen schon einmal an diesem Festakt teilgenommen hat – was, wie ich zugebe, wenig wahrscheinlich ist - , dem dürfte gleich auffallen, dass ich die Begrüßung der Landesbesten gerne mit einem Hinweis auf den etymologischen Ursprung des Wortes „Schule" beginne.
Das mache ich nicht, weil mir nach so vielen Jahren nichts Neues mehr einfällt – nein, es bietet sich bei einem solchen Anlass von der Sache her an: Unser Wort „Schule" kommt von dem lateinischen schola. Dieses wiederum ist eine Latinisierung des griechischen Wortes σχολή: die Ruhe, die Muße, die Zeit, in der man sich nicht mit seiner Hände Arbeit für den Lebensunterhalt abplacken muss. σχολή nun wird abgeleitet von dem Aoriststamm des Wortes ἔχω: haben, halten. Sie ist also – genaugenommen – das Anhalten. Und genau das ist es, was Sie, liebe Landessieger, getan haben: Sie haben Ihren bisherigen Alltag ein Stück weit angehalten, haben sich von seinen vielfältigen und - meist vermeintlichen - Zwängen befreit und sich auf diese Weise die σχολή genommen, sich vier Wochen lang auf das von Ihnen gewählte Thema Ihrer Hausarbeit zu konzentrieren. Ich selbst habe einige Ihrer Arbeiten gelesen und ich war – ich sage es ohne zu übertreiben – von Ihrer jugendlichen Neugierde und Ihrer Freude am Denken fasziniert. Es stimmt mich zuversichtlich, wenn ich sehe, was junge Menschen erreichen können, wenn sie ihren Alltag für eine Weile anhalten und sich völlig einem Thema widmen, es ganz und gar geistig durchdringen.
Sehr verehrte Anwesende, Schule braucht σχολή. Bildung, die Entfaltung einer innerlich freien und verantwortungsbewussten Persönlichkeit kann nicht unter Druck erfolgen, sie braucht Muße, Konzentration und Zeit - eben σχολή.
Deshalb begrüßen wir ausdrücklich die Entscheidung der niedersächsischen Landesregierung, zur neunjährigen Gymnasialzeit zurückzukehren. Dieser Schritt stellt eine notwendige Entschleunigung des Schullebens dar. Endlich bekommen unsere Schüler wieder die Zeit, die sie für ihre Entwicklung brauchen.
So sehr sich die Landesregierung bei der Rückkehr zu G9 auf einen weitgehenden bildungspolitischen Konsens innerhalb Niedersachsens berufen kann, so sehr formiert sich auf Bundesebene Widerstand gegen diese Entwicklung. Im vergangenen Monat haben sich Schulpolitiker, Bildungsforscher und Arbeitgebervertreter in einem gemeinsamen Appell an die Kultusministerkonferenz gegen die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium ausgesprochen.
Sieht man sich allerdings die Liste der Unterzeichner an - darunter die beiden Direktoren des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) - , dann wundert es einen nicht, dass in dem Appell eine achtjährige Gymnasialzeit empfohlen wird. Vermutlich könnten sich einige Autoren des Aufrufes auch eine noch kürzere Gymnasialzeit vorstellen - etwa, indem man das Gymnasium erst mit dem Schuljahrgang 8 beginnen lässt. Denn die Vertreter einer möglichst kurzen Gymnasialzeit haben einen völlig anderen Bildungsbegriff als wir. Wer die Bildungsziele auf die Vermittlung rein methodischer Kompetenzen reduziert, kommt natürlich auch mit einer kürzeren Gymnasialzeit aus. Deshalb folgt es durchaus einer gewissen Logik, dass die Direktoren desjenigen Institutes, das die Aufgaben für den Pool des Bundeszentralabiturs stellt, für ein achtjähriges Gymnasium eintreten. Denn auch diese Aufgaben evaluieren lediglich allgemeine methodische Kompetenzen. Und anders ließe sich - schon angesichts der unterschiedlichen Ferienzeiten - ein Zentralabitur in einem föderalen Staat wohl auch gar nicht organisieren. Ein Wissen oder ein Verständnis kann in einem Bundeszentralabitur nicht überprüft werden.
Unser Bildungsbegriff geht über die Vermittlung methodischer Kompetenzen weit hinaus. Zwar räumen wir gerne ein, dass vor der Kompetenzorientierung den Fähigkeiten und Fertigkeiten zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. Gleichwohl haben wir Altphilologen aber eine inhaltliche Entleerung unserer Fächer nicht mitgemacht. Stattdessen haben wir in unseren Kerncurricula die zu erwerbenden Kompetenzen stets an Inhalten ausgewiesen.
Wir sind davon überzeugt, dass der die Persönlichkeitsbildung anregende Gehalt eines Faches nicht in inhaltsleeren Kompetenzen zur Geltung kommt. Erst in der Begegnung und der Auseinandersetzung mit den Inhalten wird das Potential wirksam, das den jungen Menschen dazu anregt, seine eigene, unverwechselbare Persönlichkeit zu entfalten. Ich nenne nur ein Beispiel:
Einige von Ihnen, liebe Schülerinnen und Schüler, haben sich in ihrer Hausarbeit, wie ich weiß, mit dem Thema "Kallikles und Hitler" befasst.
Der Sophist Kallikles vertritt in Platons Dialog 'Gorgias' die Position des Naturrechtes. Er argumentiert ungefähr so: Es bestehe ein Gegensatz zwischen der Physis, der Natur, und dem Nomos, den ethisch begründeten Regeln eines Gemeinwesens. Überall in der Natur herrsche das Recht des Stärkeren, nur der Mensch treffe Absprachen, die es verbieten, dass sich der Stärkere das nimmt, was er will, und das ihm aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit eigentlich auch zustehe. Damit handele der Mensch gegen das natürliche Recht und stelle sich gleichsam außerhalb der Natur.
Liebe Anwesende, allein der Titel des Themas - "Kallikles und Hitler" - deutet an, dass dieses Gedankengut in der Geschichte des menschlichen Denkens immer wieder eine Rolle gespielt hat. Dabei ist es gar nicht nötig, eine direkte Verbindung zwischen Platon und dem Nationalsozialismus herzustellen, da es sich offensichtlich um eine Grundfrage der menschlichen Existenz handelt - nämlich um die Frage nach der Rolle des Menschen in der Welt und seinem Verhältnis zur Natur.
Bekanntlich wurden die Forschungsergebnisse, die Darwin im Tierreich erzielt hatte, im Sozialdarwinismus auf den Menschen übertragen und - mit den furchtbarsten Folgen - von der nationalsozialistischen Ideologie adaptiert. Am Ende hat sich, wie wir aus den gut bezeugten Tischgesprächen im Führerbunker wissen, das sozialdarwinistische Denken Hitlers sogar gegen sein eigenes Volk gerichtet.
Es ist recht unwahrscheinlich, dass Hitler den platonischen 'Gorgias' gelesen hat und somit die Entgegnung des Sokrates auf Kallikles kannte. Es ist auch nicht wichtig. Vermutlich hätte er sie gar nicht ernsthaft erwogen, weil Ideologen nur das zur Kenntnis zu nehmen bereit sind, was in ihr Gedankengebäude passt. Für uns aber ist die Position des Sokrates durchaus von Interesse. Im weiteren Verlauf des Gespräches mit Kallikes führt Sokrates nämlich den Nachweis, dass die Antinomie zwischen Physis und Nomos, zwischen Natur und Moral letztlich eine künstliche Fiktion ist. Die Ethik gehört untrennbar zum Menschen, sie ist ein Teil seiner Natur und damit ein Teil der Natur insgesamt. Es ist deshalb völlig unmöglich, dass der Mensch aufgrund der Ethik außerhalb der Natur steht.
Meine Damen und Herren, wie wird nun der die Persönlichkeitsbildung anregende Gehalt dieses Beispiels wirksam? Gewiss wäre es reizvoll die Struktur des Gespräches zu analysieren und sie ggf. mit der einer modernen Talkshow zu vergleichen. Für die Entfaltung einer freien und verantwortungsbewussten Persönlichkeit dürfte aber Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Gespräches - also mit der Position des Kallikles und der Entgegnung des Sokrates - weitaus anregender sein.
Wer meint, das Gymnasium könne auf Inhalte verzichten, mag auch eine möglichst kurze Gymnasialzeit für möglich und wünschenswert halten. Wir tun das nicht!
Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, haben Ihren Alltag ein Stück weit angehalten und sich mit den Inhalten Ihrer jeweiligen Themen intensiv auseinandergesetzt. Ich bin mir sicher - und ich denke, Sie werden das bestätigen, wenn Sie uns Ihre Hausarbeiten vorstellen -, dass Sie diese intensive Auseinandersetzung geistig angeregt und Sie dadurch in Ihrer Entwicklung vorangebracht hat.
Liebe Landessieger, ich ermuntere Sie: Nehmen Sie sich immer wieder die Freiheit zur Sxolhß, bewahren Sie sich Ihre Freude am Denken, die Sie mit Ihrer Teilnahme am Rerum Antiquarum Certamen unter Beweis gestellt haben.
Von den 626 Schülerinnen und Schülern, die teilgenommen haben, sind Sie die 12 besten aus ganz Niedersachsen! Sie haben alle drei Stufen unseres Wettbewerbes mit Bravour durchlaufen.
In den vergangenen zwei Tagen haben Sie das anspruchsvolle Auswahlseminar der Studienstiftung des deutschen Volkes und des Niedersächsischen Altphilologenverbandes absolviert. Unabhängig davon, wer von Ihnen heute in die Studienstiftung aufgenommen werden wird, sind Sie alle, die Sie mit Ihren Eltern, betreuenden Lehrkräften und Schulleitern in die Lessingstadt Wolfenbüttel, in diese bedeutende Bibliothek gekommen sind, unsere Landesbesten. Sie alle wollen wir heute ehren.