(gehalten von Burghard Gieseler am 5. Oktober 2012 am Ratsgymnasium in Goslar)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich heiße Sie zu unserem Landestag mit griechischem Schwerpunkt, zu unserem diesjährigen Gräzistentag, herzlich willkommen.

Dass Sie so zahlreich, z.T. von weither (denn Goslar zeichnet sich mehr durch seine Schönheit als durch seine zentrale Lage aus) hierher ins Ratsgymnasium gekommen sind, deuten wir als Zustimmung zu unserem heutigen Programm.

Ähnlich wie vor einem Jahr in Osnabrück haben wir dem Landestag eine fächerübergreifende Thematik gegeben. Wir wollen uns heute schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis der Fächer Latein und Griechisch zueinander befassen, weil wir von der Zusammengehörigkeit der Alten Sprachen – und von ihrem gegenseitigen Nutzen – fest überzeugt sind. Ich denke, es kann nicht bezweifelt werden, dass das Fach Griechisch ohne die hervorragende Arbeit unserer Lateinkollegen schon längst von der Bildfläche verschwunden wäre. Denn was sollte einen Schüler dazu bewegen, nach einer alten Sprache noch eine zweite zu wählen? Es dürften wohl weniger die eher abstrakten Informationen auf einem Elternabend als vielmehr die konkrete Erfahrung eines guten Lateinunterrichtes sein. Und natürlich könnte der Griechischunterricht – angesichts der wenigen Unterrichtsstunden, die fast ausschließlich am Nachmittag liegen – nicht bis zum Graecum oder gar bis zur Abiturprüfung auf erhöhtem Anforderungsniveau kommen, wenn er nicht auf die im Lateinunterricht erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zurückgreifen könnte. Andererseits profitiert auch der Lateinunterricht – wenigstens an denjenigen Schulen, an denen beide alte Sprachen angeboten werden – vom Griechischunterricht. Denn fast alle lateinischen Autoren haben ihre literarischen Vorlagen im Griechischen, welches deshalb mit wertvollen Hintergrundinformationen zu einem vertieften Verständnis des Lateinischen beitragen kann.

Diese inhaltliche Zusammengehörigkeit der Alten Sprachen kann wohl niemand besser darlegen als unser heutiger Referent. Als ich Sie, lieber Herr Dr. Nickel, am Rande des Bundeskongresses in Erfurt ansprach und Ihnen sagte, wie wir uns die thematische Ausrichtung des Gräzistentages vorstellen, haben Sie uns, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, einen passenden Vortrag zugesagt. Hierfür danke ich Ihnen im Namen aller Anwesenden sehr herzlich. Wir freuen uns auf Ihre Ausführungen zum Thema: „Zwischen Autarkie und Anerkennung: Arete-Konzepte von Aristoteles bis Cicero“.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir wichtig, an dieser Stelle, also gleich zu Beginn unseres Landestages auch all denen zu danken, die heute Nachmittag einen Arbeitskreis anbieten. Besonders freue ich mich darüber, dass – unabhängig von Dienstposten und Wohnort – unter den Referenten sowohl zwei Referendarinnen aus Ostfriesland als auch ein renommierter Hochschulprofessor aus Göttingen zu finden sind. Dies zeugt in sehr schöner Weise von dem, wenn ich es so sagen darf, Familiensinn der Altphilologen aber auch von der Vitalität der Alten Sprachen in Niedersachsen.

Gleichwohl muss die Entwicklung der Fächer Latein und Griechisch natürlich differenziert betrachtet werden. Denn während die Schülerzahlen im Fach Latein seit Jahren kontinuierlich ansteigen, stagnieren sie im Fach Griechisch auf niedrigem Niveau. Selbstverständlich sagt die Höhe der Schülerzahlen nichts, aber auch gar nichts über den Wert eines Faches aus. Vielmehr spiegeln sich in den Zahlen des Faches Griechisch die Rahmenbedingungen eines Faches wider, das ausschließlich als dritte Fremdsprache angeboten wird. Es liegt auf der Hand, dass die Verkürzung der Schulzeit zu Lasten der dritten Fremdsprache gegangen ist. Generell kann festgestellt werden, dass die - rein ökonomisch motivierte -  Schulzeitverkürzung zu einer gewissen Verarmung des schulischen Lernens geführt hat. Denn auch die Zahl der für das Schulleben so wichtigen und deshalb unverzichtbaren Arbeitsgemeinschaften ist seither zurückgegangen. Das Fach Griechisch ist hiervon an den Standorten berührt, an denen es nur in Form einer Arbeitsgemeinschaft angeboten wird. Wer sich die Stundenpläne unserer Schüler ansieht, wird schnell verstehen, dass für viele – angesichts ihrer ohnehin schon enormen Belastung – die  Wahl einer dritten Fremdsprache schlechterdings nicht möglich ist. Da kann es einen direkt erstaunen, dass das Fach Griechisch keineswegs, wie von so manch einem schon seit längerem geunkt wird, aus der Fläche in Niedersachsen verschwunden ist. Betrachtet man die Unterrichtsbedingungen – es stehen, ich sagte es bereits, in der Regel nur wenige Randstunden zur Verfügung – , grenzt es fast an ein Wunder, dass überall dort, wo Griechisch unterrichtet wird – sei es in Form einer Arbeitsgemeinschaft, sei es in Form eines regulären Unterrichtsfaches – das Graecum (also Platon-Niveau!) erreicht wird. Diese ungeheure Leistung kann nur mit dem geradezu unstillbaren Wissensdurst unserer Schüler und dem nicht tot zu kriegenden Engagement unserer Griechisch-Lehrkräfte erklärt werden. Von einigen (auch der hier im Raume anwesenden) Kollegen weiß ich, dass sie sogar bereit sind, einen Teil ihres Deputats unentgeltlich zu erteilen, wenn nur so kleine Lerngruppen genehmigt werden. So sehr ich mich über diesen Idealismus freue, solche Regelungen sind natürlich nicht unproblematisch. Denn die Intensität der Unterrichtsvorbereitung hängt ja nicht von der Größe der jeweiligen Lerngruppe ab und auch der viele Nachmittagsunterricht ist nicht nur für Schüler, sondern auch für Lehrer belastend.

Bekanntlich ist die Unterrichtsverteilung – also auch die Genehmigung eines Griechischkurses – die ureigenste Aufgabe des Schulleiters. Er hat ferner bei der Stellenausschreibung maßgeblichen Einfluss auf das Unterrichtsangebot an seiner Schule und prägt auf diese Weise deren Profil. Der Schulleiter nimmt bei der Profilbildung eine zentrale Rolle ein.

Es ist in den letzten Jahren mehrfach dazu gekommen, dass bei der Neubesetzung einer Schulleiterstelle überhaupt nicht darauf geachtet wurde, welche Haltung der Bewerber zu dem tradierten Profil der jeweiligen Schule einnahm. Auf diese Weise ist es – besonders im Norden unseres Bundeslandes – an verschiedenen Gymnasien mit bislang altsprachlichem Profil zu einem Traditionsbruch gekommen. So ist es aus unserer Perspektive durchaus ein Skandal, dass in einer Stadt wie Oldenburg an keiner Schule das Graecum erworben werden kann.

Wir halten es im Sinne einer nachfrageorientierten Bildungspolitik für notwendig, dass die städtischen Gymnasien der Bevölkerung unterscheidbare Profile zur Auswahl anbieten. Ein solches Bildungsangebot wäre wesentlich vielfältiger und damit schülergerechter als ein Einerlei, in dem sich die Profile kaum voneinander unterscheiden. Selbstverständlich gehört zu einem attraktiven Bildungsangebot auch ein explizit altsprachliches Profil –  mit Griechisch!

Das Kultusministerium hat durchaus die Möglichkeit über fachbezogene Zusätze bei der Ausschreibung der Schulleiterstellen den Prozess der Profilbildung in den Städten zu unterstützen. Natürlich (!) sind wir nicht so naiv zu glauben, dass fachbezogene Zusätze über den Kopf der jeweiligen Schule oder des Schulträgers hinweg erfolgen können. Das wäre keineswegs sinnvoll. Stattdessen muss im Vorfeld der Stellenausschreibung mit den Schulen und dem Schulträger ein Einvernehmen über das Schulprofil hergestellt werden.

Sinnvollerweise muss der Prozess einer differenzierten Profilbildung in den Städten und Regionen vorausschauend geplant und koordiniert werden. Dies kann nur von der Schulaufsicht geleistet werden, die den notwendigen Sachverstand und den Überblick besitzt.

Meine Damen und Herren, vor Kurzem erhielt ich einen Anruf der italienischen Tageszeitung La Stampa. Man habe von dem „Boom“ des Lateinischen und auch von dem vergleichsweise starken Stand des Griechischen in Deutschland gehört und wolle mich zu den Gründen dieser Entwicklung befragen. Sie können sich vorstellen, dass dieses Interview sehr lange gedauert hat. Denn die Gründe für das hohe Ansehen, das die Alten Sprachen in Deutschland genießen, sind vielfältig. Erlauben Sie, dass ich einen herausgreife.

Die Bevölkerung hat zunehmend ein Gespür dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen Sprache und Denken gibt. Es treibt sie die Frage um, wie sich der heutige Medienkonsum und eine mit ihm einhergehende (mögliche) Sprachverarmung auf unsere Fähigkeit zu denken auswirken. Das große Interesse an dieser Frage – wahrscheinlich ist es eher eine Sorge – spiegelte sich jüngst in dem rasanten Absatz wider, den das Buch „Digitale Demenz“ des Ulmer Hirnforschers Manfred Spitzer fand. Auch wenn dieses Werk als Ganzes sicherlich nicht die in es gesetzten Erwartungen erfüllt hat – es handelt sich größtenteils um eine Ansammlung von Allgemeinplätzen ohne wissenschaftlichen Aussagewert - , punktuell sind durchaus Forschungsergebnisse zu finden, die den Zusammenhang von Sprache und Denken unmittelbar berühren und ihn überzeugend erklären. Ich beziehe mich vor allem auf das Kapitel, in dem sich Spitzer mit der „Verarbeitungstiefe“ (S. 63 ff.) befasst. Zu dieser Thematik führt er folgendes aus: „Dadurch, dass ein Sachverhalt verarbeitet wird, also in unserem Gehirn Impulse über Synapsen von Neuron zu Neuron gesendet werden, ändern sich diese Synapsen, und der Inhalt wird damit auch gelernt. Wie viele Neuronen und Synapsen mit einem Sachverhalt beschäftigt sind, hängt allerdings von der Verarbeitungstiefe ab“ (S. 64).
Spitzer belegt diese Aussage mit einem Experiment: Ein identischer Text wurde drei Versuchsgruppen jeweils für zwei Minuten vorgelegt. Die erste Gruppe sollte darauf achten, ob die einzelnen Wörter mit Klein- oder Großbuchstaben geschrieben waren, die zweite Gruppe darauf, ob es sich bei den Wörtern um Substantive oder Verben handelte, und die dritte Gruppe sollte darauf achten, ob die Wörter etwas Belebtes oder etwas Unbelebtes bezeichneten. Nach einigen Tagen nun wurden die Probanden gefragt, an welche Wörter sie sich erinnern konnten. Es zeigte sich, dass die Gedächtnisleistung mit dem Grad der Textbearbeitung korrelierte: Je intensiver die Textbearbeitung, desto höher die Gedächtnisleistung. Spitzer resümiert: „Wenn ich mich mit einem Sachverhalt eingehend beschäftige, dann werden alle seine Aspekte und Eigenschaften von verschiedenen Gehirnarealen erfasst. Diese intensive Bearbeitung nach allen möglichen  Aspekten bewirkt die Veränderung sehr vieler Synapsen und damit das bessere Speichern dieses Inhalts“ (S. 69).

Sehr verehrte Anwesende, ich behaupte, dass die Intensität der Textbearbeitung nirgends so hoch ist wie bei dem nur noch im altsprachlichen Unterricht praktizierten Übersetzen ins Deutsche. Ich will dies kurz skizzieren.
Beim Übersetzen unterscheidet man – auf das Ganze gesehen – zwei Phasen: nämlich das Decodieren und das Recodieren. Während das Decodieren darauf zielt, den Sinn eines Textes, Satzes, eines Wortes zu verstehen, ist das Recodieren darauf gerichtet, diesen Sinn in der deutschen Sprache wiederzugeben. Dabei müssen zwei Forderungen gleichzeitig erfüllt werden: 1. Es darf zu keiner Sinnverschiebung kommen. 2. Die Übersetzung muss in gutes Deutsch erfolgen. Der deutsche Sprachgebrauch ist für die Übersetzung maßgebend.
Lassen Sie mich ein Beispiel geben:
In seiner 12. Rede beschreibt Lysias, wie er bei seiner Verhaftung durch die Triakonta versucht habe, sich durch Bestechung die Freiheit zu erkaufen. Als ihm aber einer der Schergen das gesamte Geld abnimmt und Lysias dann nur noch um ein Reisegeld bittet, heißt es barsch: ὁ δ᾽ ἀγαπήσειν με ἔφασκεν, εἰ τὸ σῶμα σώσω. „Der aber sagte, ich solle zufrieden sein, wenn ich den Körper retten werde.“ Formal gesehen, mag die Übersetzung des Wortes σῶμα mit „Körper“ zwar richtig sein. Sie entspricht in diesem Kontext aber nicht dem deutschen Sprachgebrauch. Eine Übersetzung, die die deutsche Sprachpraxis zum Maßstab nimmt, müsste lauten: „Der aber sagte, ich solle zufrieden sein, wenn ich meine Haut retten werde.“ Die Übersetzung von σῶμα mit „Haut“ trifft hier genau den Sinn und entspricht unserem Sprachgebrauch, auch wenn die Wörterbücher die Bedeutung bekanntlich mit „Körper“ angeben. Dabei kann sich der Übersetzer natürlich nur für eine Wortbedeutung entscheiden, die seinem Textverständnis entspricht. Übersetzung und Interpretation sind also identisch.

Dieses relativ leichte Beispiel zeigt bereits die hohe Intensität der Textbearbeitung beim Übersetzen ins Deutsche und damit deren Verarbeitungstiefe, die, wie Manfred Spitzer sagt, die Voraussetzung für nachhaltiges Lernen ist.
Dabei dürfte folgender Grundsatz gelten: Je nuancenreicher und ausdruckvoller die Ausgangssprache, desto höher die Intensität der Textbearbeitung beim Übersetzen in die Zielsprache. Die griechische Sprache ist mit ihrem Partikelreichtum, ihren Aktionsarten, ihren Modi und ihren Diathesen besonders nuancenreich und ausdruckvoll und übertrifft in dieser Hinsicht auch die Zielsprache, das Deutsche. Um also diesen Nuancenreichtum und diese Ausdruckfülle vom Griechischen ins Deutsche übertragen zu können, bedarf es eines vertieften Nachdenkens über die Ausdruckmöglichkeiten im Deutschen – eben einer, wie Spitzer sagt, hohen Intensität der Textbearbeitung. Damit dürfte, denke ich, deutlich geworden sein, dass die Lektüre der griechischen Autoren im Original die Fähigkeit zu denken im hohen Maße fördert.

Meine Damen und Herren, den äußersten vorstellbaren Gegensatz zur griechischen Sprache bildet das „Neusprech“ in George Orwells Negativ-Utopie „1984“. Nirgendwo ist der Zusammenhang von Sprache und Denken und seiner politischen Dimension so drastisch und beklemmend geschildert worden wie in diesem Roman. Das beschriebene totalitäre Regime ist ständig bemüht, die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache zu verringern: „Es war geplant, dass (...) ein ketzerischer Gedanke (...) buchstäblich undenkbar sein sollte, insoweit wenigstens, als Denken an Worte gebunden ist. (...) Im Vergleich zu unserem war das Neusprechvokabular winzig, und ständig erprobte man neue Methoden, es weiter zu reduzieren. (...) Jede Reduktion war ein Gewinn, denn je kleiner die Auswahlmöglichkeit, desto geringer die Versuchung zu überlegen. Letztlich hoffte man so weit zu kommen, dass der Kehlkopf ohne Einschaltung der höheren Gehirnzentren die Sprache artikulierte.“

Das ist genau das Gegenteil von dem, was wir wollen. Das Ziel unseres Unterrichtes ist der mündige Bürger, der sprachkompetent ist und differenziert denkt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und
wünsche Ihnen einen anregenden Gräzistentag 2012.